26.10.2025
über Johannes 5,1-16 (Lut17); gehalten in der Kirche Großschirma von Dr. Gunnar Wiegand, Pfarrer des Freiberger Doms
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Stille…
Lesung des Predigttexts Johannes 5,1-16 (Lut17)
Liebe Gemeinde,
eine eigenartige Geschichte – trotz aller Klarheit in ihrer Erzählung. Eigenartig… ich stelle mir vor: ein Mann ist krank… 38 Jahre heißt es… er liegt an den Reinigungsteichen des Tempels, die Mikwe… und wartet. Johannes schreibt nicht, wie lange er schon da draußen ist… auch erfahren wir nicht, was er genau hat… er ist ans Bett gefesselt. Und so lange Zeit niemand, der ihm geholfen hat… an diesem öffentlichen Ort… auf mich wirkt es fast so, als ob dieser Mann nicht nur keine Hilfe gehabt hat… es wirkt auf mich so, also ob er Hilfe immer wieder ausdrücklich abgelehnt hat. Offenbar gab es nicht immer Wasser in dem Teich… das Wasser kam und ging… und immer, wenn es kam – keine Hilfe. Und dieses Wasser war nicht nur ein symbolisches Reinigungswasser, um gewaschen das Heiligtum zu betreten… für Menschen scheint es schnelle, ja fast wundersame Heilgungskräfte gehabt zu haben… eigenartig… für mich so weit weg aus meiner Naturwahrnehmung… es erinnert mich an katholische Wallfahrtsorte wie Lourdes oder so zahlreiche Marienquellorte in meiner Bayerischen Heimat.
In der Geschichte jedenfalls war das Wasser wieder da. Und an diesem Sabbat erschien Jesus an dem Teich – er war auf dem Weg nach Jerusalem. Jesus spricht den Mann an… „Willst Du gesund werden? … Dann steh auf, nimm dein Bett und geh hin! … Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin“ – was für eine eigenartig-knapp-spröde Begegnung dieser beiden Männer. Ich frage mich: wieso fährt dieser Mann so auf Jesus ab? Wie konnte er bis dahin so isoliert sein, dass er in 38 Jahren nicht schon früher einen anderen Menschen gefunden hat, der ihm diesen kurzen Satz gesagt hat? Was hat Jesus anders gemacht als andere Leute? War es am Ende die Dreistigkeit ausgerechnet am Sabbat zu dieser Tat aufzufordern? 38 Jahre ist eine bemerkenswerte Zahl… im fünften Mose-Buch (Dtn 2,14) stehen 38 Jahre für die Strafwanderung Israels durch die Wüste: „38 Jahre waren die Israeliten unter Gottes Zorn und starben, bis sie dann ins Land geführt wurden.“ (Frey) Ich stelle mir vor… dieser völlig isolierte Mensch… offenbar unfähig Hilfe anzunehmen… woran hat er wirklich gelitten?… ist es nun ausgerechnet das Wasser des Teichs Betesda, das die Heilung herbeiführte? Jesus kommt nun… er sieht diesen Menschen in seiner Einsamkeit, seiner Hilflosigkeit… sind es Schuldgefühle? … Und Jesus ignoriert das Sabbatgebot… am Ende wird der Mann gesund …
Mir kommt… vermutlich sagt diese Geschichte mehr über Jesus als über den kranken Mann… Ja sie zeigt: „Jesus hat Macht. Er kann nicht nur den Leib gesund machen, sondern auch die Seele. Er heilt den ganzen Menschen. Er tut, was nur Gott tun kann. Deswegen malt Johannes diese Heilung so drastisch aus. Etwas aus menschlicher Sicht Unmögliches geschieht. Der Kranke wagt nach 38 Jahren das Unmögliche. Er wagt es, weil Jesus ihn dazu auffordert.“ (Peetz) … er führt ihn zum Glauben… an den Nächsten, dadurch an Jesus, Gottes Sohn und schließlich auch zum neuen Glauben an sich selbst. Und dieser Glaube beflügelt: der Mann traut Jesus – wenigstens Kurzzeitig – Unmögliches zu. Er wagt es, einmal etwas anders zu machen. Er steht auf. Aufstehen, ja auferstehen.
Und da bin ich auf einmal völlig in der Gegenwart…. Bei Menschen, denen ich begegne… in meiner Familie… ja, im Diskurs unserer Gesellschaft… sogar in meinem eigenen Leben…
- Ich höre die Klage eines Seniors… die eigene Isolation… da war Corona… erzwungene Isolation… anfangs die Angst… er habe mitgemacht… dann aber ist seine Stimmung und Meinung gekippt… Coronamaßnahmen völlig übertrieben… aus einer äußeren Isolation wurde dann auf einmal eine eigene, innere Isolation… Die Familie habe sich abgewendet… weil er Corona für ungefährlich hält… bis heute – obwohl diese Krankheit schon so viele Jahre überhaupt keine Lockdowns zur Folge hat… es wirkt seelisch nach… die Verletzungen sind immer noch da… wie ist hier Heilung möglich?
- Ich höre den inneren Widerstreit bei meinen Kindern… Papa, mir ist langweilig… dann spiel doch Lego… keine Lust… mach doch etwas für die Schule oder übe dein Instrument… ich habe doch schon Hausaufgaben gemacht … geh doch zu einem Freund, einer Freundin… ich will jetzt nicht mit anderen Kindern spielen … da ist diese Gefangenheit in den eigenen inneren Widersprüchen: ich will etwas tun… und wenn es konkret wird, dann ist es auch nichts… wie kommt man da heraus?
- Heute ist die zweite OB-Wahlrunde in Freiberg… das Wahlforum vom letzten Dienstag ist mir noch sehr lebendig vor Augen… mein Eindruck: manchmal sind politische Meinungen einfach festgefahren. Jede und jeder hat seine Überzeugung… ja muss sich politisch mit einer klaren Haltung profilieren… Kompromisse sind da oft kaum möglich… Wie weit geht die Profilierung und damit die politische Isolation?
- Und ganz bei mir: manchmal denke ich so über mein Leben nach und frage mich: Wie wäre es, wenn mein Leben ganz anders verlaufen würde? Wie wäre es, wenn ich gar nicht Pfarrer wäre… Handwerker, einen Betrieb hätte, ein Angestellter… wenn ich wo ganz wo anders wohnen würde… und dabei erwische ich mich, wie ich träume, wie es wäre, auszubrechen aus Allem… ich könnte das machen, oder jenes machen… was jetzt nicht geht… ausbrechen aus unserer Gesellschaft, aus unserem Land… aus meinen Gewohnheiten… frei sein… ja aber wir sind in unsere Bahnen eingebunden… und ich bin auch dankbar für mein Leben. Bin ich auf dem richtigen Weg? Mit Jesus?
Aufstehen, auferstehen… wie kann das gelingen? Ja, erst einmal begegnet Jesus diesem Mann… so richtig sehe ich nicht, warum das nun ausgerechnet bei Jesus passiert... ja gut… Jesus hat Macht… Johannes stellt ihn als Gottessohn dar… aber was hilft es mir? Ist es einfach die Begegnung mit einem anderen Menschen?... ihm zu sagen… „Mensch, so kannst Du nicht weitermachen!“… viele Worte hat Jesus ja gar nicht gemacht… braucht es die Geste, sittliche Gebote, religiöse Gebote oder gar Recht zu missbrauchen, damit ich den anderen aus seiner Isolation wachrüttle? Oder ist es der einfache Ruf nah dem Glauben an Jesus? – wie er hier vorbildlich in der Geschichte erscheint.
„Danach fand Jesus [den Mann] im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.“ – so endet diese Episode… und damit endet sie so eigenartig, wie sie angefangen hat…
Es bleibt offen: berichtet der Mann lediglich von seiner Heilung oder denunziert er Jesus richtiggehend… welche Veränderung hat sein Leben durchlaufen? Ist er ein Jesus-Bekenner, ein echter Jesus-Gläubiger… liegt die Schuld nun auf den Schultern derer, denen der Mann von seiner wunderhaften Heilung berichtet hat?... zumindest spielt diese Gruppe der Juden bei Johannes dann keine gute Rolle mehr… Oder ist der Mann richtiggehend ein Verräter... undankbar, ja bösartig und damit Sünder vor Jesus – auch weiterhin?
Ich sehe da Parallelen zu meinen Gegenwartserfahrungen: ich rede mit Menschen und sehe manchmal so ihre selbstbezogenen Leiden… mit manchen rede ich sogar sehr viele Worte… aber es ändert nichts… sie beharren in ihrer Position als angebliche Opfer oder gefangen in der eigenen Rolle, gefangen in den eigenen Wertvorstellungen… man will ja vielleicht nicht das Gesicht verlieren. Und dann gibt es aber auch die Menschen, die wirklich etwas in ihrem Leben ändern. Da ist vielleicht ein humorvolles Lachen über die eigene Schrulligkeit in der Vergangenheit… da ist vielleicht eine Verständigung in einem Streit oder Versöhnung nach Jahrelanger Gegnerschaft… und manchmal ist da am Ende auch ein klares Bekenntnis zu Jesus, zu unserer Kirche, der Wunsch nach einer Taufe.
Mich lehrt die Geschichte: auch wenn wir uns ändern… die Welt wird dadurch auch nicht unbedingt besser… aber ich kann vor Jesus treten und sagen: „ja, dich kenne ich. Du hast mein Leben verändert“ Und Jesu Wort hallt dann wieder: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr…“
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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