02.11.2025
über Römer 3,21-18 (Lut17); gehalten im Freiberger Dom St. Marien von Pfr. Dr. Gunnar Wiegand und Pfr. Dr. Justus Geilhufe
Der Predigttext Römer 3,21-28 wurde als Epistel verlesen
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Stille…
[Die Prediger gehen von den Kanzeln in den Altarraum]
Liebe Gemeinde, lieber Justus Geilhufe,
Martin Luthers Schrift von 1525 trägt den Titel „De servo arbitrio“, „Vom unfreien Willen“. Ich finde: dieser Titel provoziert. Denn wenn ich morgens aufstehe, entscheide ich frei, ob ich dusche oder nicht, Kaffee oder italienischen Espresso trinke. Ich wähle meine Kleidung, plane meinen Tag, treffe Menschen, führe Gespräche – und bei all dem habe ich das Gefühl: Ich entscheide. Ich wähle. Ich bestimme. Der Wille scheint frei zu sein, gelenkt von Vernunft, von Wünschen, von Zielen. Und so lebe ich, als wäre ich Herr meiner Entscheidungen.
Und stell dir mal vor es wäre anders! Was für ein grauenhaftes Leben wäre es denn, wenn wir beobachten könnten, dass wir eben nicht frei sind. Wenn ich morgens aufstehe und merke, ich bin eingeengt, jemand anders führt mich und ich tue sogar Dinge gegen meinen Willen. Aber wart mal...Ist das nicht teilweise so? Jetzt wo ich drüber nachdenke: Wer von uns geht denn seinem Tagwerk nach und sagt dann beim Zubettgehen: Heute habe ich alles richtig gemacht. Im Gegenteil: Manchmal kann man gar nicht einschlafen, weil man sich so ärgert über das, was einem heute wieder passiert ist. So viel Gutes will ich immer tun und am Ende, geht doch so viel verkehrt. Das kennst du doch auch.
Ja, das kenne ich schon. Aber das ist doch ganz einfach: wir sind halt der Natur und ihren Gesetzen auch noch ausgeliefert... Wenn ich hinfalle und mir mein Bein breche und Schmerzen habe, dann war das doch ganz klar die Erdanziehungskraft. Sie bringt mich aus dem Gleichgewicht. Die Bibel spricht da von Mächten oder Dämonen in der Welt.
Ich glaube wir müssen das noch einmal ganz anders aufrollen. Ich glaube wir müssen klar einfache Alltagsentscheidungen und moralische Entscheidungen trennen. In der Debatte von Erasmus und Luther geht es ja nicht nur darum, dass wir uns als Menschen frei oder unfrei fühlen oder Gutes oder Schlimmes erleiden. Es ging Erasmus von Rotterdam und Martin Luther um den freien Willen in Hinblick auf das Heilsgeschehen. Im Lateinischen steht dafür der Begriff „Arbitrium“. In anderen Worten: Kann ich etwas dazu beitragen, dass ich von Gott gerechtfertigt werde? Ist mein Wille frei, sich für das Gute oder Böse zu entscheiden.
Und genau hier ist Erasmus der Ansicht: klar bin ich frei und kann mich im Handeln für dieses Gute oder Böse entscheiden. Warum?
- Wenn der Wille völlig unfrei wäre, wären moralische Appelle, Erziehung und Verantwortung sinnlos. Doch genau diese sind zentrale Bestandteile menschlichen Zusammenlebens. Wozu müssten wir Konfis überhaupt noch in die Konfi-Stunden einladen? Warum sollten die Leute in den Gottesdienst kommen, ja überhaupt zur Kirche gehören, oder sich gar in der Kirche engagieren?
- Viele Bibelstellen geben von dieser Entscheidungsfreiheit Zeugnis. Erasmus bezieht sich darauf. Seine drei stärksten Argumente:
o Im 5. Buch Mose 30,19 steht: „Mose spricht: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst.“ -> Für Erasmus ein klarer Hinweis darauf, dass der Mensch eine Wahl treffen kann – sonst wäre der Aufruf sinnlos.
o In der apokryphen Schrift Jesus Sirach 15,14–17 (in der Vulgata enthalten, daher für Erasmus relevant): „Gott hat im Anfang den Menschen geschaffen und ihm die Wahl gelassen: Wenn du willst, so kannst du die Gebote halten und in rechter Treue tun, was ihm gefällt. Er hat dich vor Feuer und Wasser gestellt: Wähle, was du willst! Der Mensch hat vor sich Leben und Tod; was er wählt, wird ihm gegeben werden. Gott hat den Menschen am Anfang erschaffen und ihn der Macht seines freien Willens überlassen. [...] Vor Leben und Tod hat er dir gelegt, was du willst, wird dir gegeben.“ -> Du kannst Dir vorstellen: Ein besonders starkes Argument für Erasmus, da hier explizit vom freien Willen die Rede ist.
o Sogar auf das Evangelium nach Matthäus 23,37 bezieht er sich: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen … ; und ihr habt nicht gewollt!“ -> Jesus klagt über den freien Widerstand des Menschen – ein Beleg für Erasmus, dass der Mensch sich auch gegen Gottes Willen entscheiden kann.
- In anderen Worten: Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, kann er auch nicht verantwortlich gemacht werden – weder für Sünde noch für Glaubensverweigerung. Die Bibel bezeugt das auch – so Erasmus.
Ja und das hat Martin Luther den ersten Teil seines Lebens auch gedacht und hat auf einmal große Angst bekommen. Was, wenn ich wirklich ganz frei bin und das Konsequenzen hat. Was, wenn ich gegenüber einem, der perfekt ist, frei bin unperfekt zu sein mit der Folge, dass ich am Ende natürlich dafür bestraft werde. Was, wenn Gott mich wirklich danach beurteilt, was ich im Leben für ihn getan habe? Falls das nämlich so ist, siehts für mich, Martin Luther, düster aus.
So denkt er und versucht Antworten auf diese Fragen zu finden und schaut für sich, ähnlich wie Erasmus ja auch, immer und immer wieder in die Bibel und findet auf einmal den Satz So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
Unser Predigttext für diesen Reformationstag. Der Mensch ist frei in allen Dingen aber alles, was ihn zu Gott bringt, ist etwas, was Gott ihm geschenkt hat. Und dieses Geschenk ist Jesus, nicht etwa eine Kraft, die der Mensch bekommt. Nein, er bleibt unperfekt, Sünder, und darf doch in den Himmel.
Ist das nicht was?
Ja, eine großartige Einsicht… großartig, was Apostel Paulus da in der Bibel angelegt hat – ich erinnere mich an ein total schönes Bild, das Luther in seiner Schrift Vom unfreien Willen gebraucht hat:
„Der menschliche Wille ist wie ein Reittier. Wenn Gott darauf reitet, will und geht er, wohin Gott will; wie der Psalm sagt: ‚Ich bin wie ein Tier geworden, und ich bin immer bei dir.‘ Wenn der Teufel darauf reitet, will und geht er, wohin der Teufel will; und es ist nicht in seiner Macht, zu wählen, zu welchem Reiter er sich wenden oder ihn suchen will, sondern die Reiter kämpfen darum, ihn zu besitzen und zu behalten.“
Man könnte es vielleicht auch so sagen: Erasmus klaubt die Begriffe des freien Willens aus der Vulgata heraus und Martin Luther argumentiert von der Sache her. Für ihn ist die Abhängigkeit von Gott, seine Entdeckung aus der heutigen Epistellesung von Paulus so stark gesetzt, dass sie für den freien Willen überhaupt keinen Platz mehr lässt. Es reicht völlig aus: der Glaube an Jesus Christus. Er ist unsere Erlösung, nichts anderes!
Und trotzdem drängen sich mir zwei Fragen auf:
· Das erste dazu, was ich mich aber dazu frage, ist: wie kann ich dann unterscheiden, ob ich verantwortungsvoll handle oder nicht? Geht das dann überhaupt? Gibt es dann überhaupt menschliche Verantwortung? Ist dann nicht Tür und Tor geöffnet, moralisch verwerfliche Dinge zu tun und die Verantwortung dafür Gott zuzuschieben? Oder ein anderes Beispiel: wie ist denn das mit der Nächstenliebe? Besteht nicht die Gefahr, dass ich mich aus meinem Engagement zurückziehe, so nach dem Motto: das, was ich tue, ist doch Werkgerechtigkeit? Und wo bleibt dann mein Nächster?... im schlimmsten Fall im Straßengraben liegen.
· Und dann frage ich mich noch was anderes. … Wie ist das dann mit unserem religiösen Engagement? Ich sag mal so: im besten Fall kommen wir aus lauter Freude hier in so einen Gottesdienst, wir singen fröhlich im Chor, wir gehen in die Konfistunde oder die Christenlehre, in die Luther-Nacht, in die junge Gemeinde, engagieren uns in Gemeindekreisen oder im Kirchenvorstand, ich geh meiner oft harten Arbeit als Pfarrer nach – weil wir durch Christus im Glauben gerechtfertigt sind. Aber sind das nicht auch alles so kleine Werke? Wo ist die Grenze zwischen meinem Tun aus Freude an Gottes Gnade und der Werkgerechtigkeit, wie wir sie bei Erasmus kennen gelernt haben?
Ich glaube das ist gute und schwere Botschaft zugleich, wenn ich jetzt sage, dass wir das nie endgültig herausfinden können. Hier zumindest nicht. Alles, was du sagst stimmt, es scheint manches unsicher, manches nicht festgefügt, immer offen und nicht selten zum Scheitern verurteilt zu sein. Was wir aber wissen, gewiss sein dürfen, wie Luther sagt, ist, dass alles das ein Werk mit Gott und ein Leben aus seiner Gnade ist.
Die Reformation schenkt uns keine vermeintliche Sicherheit, dass das eine gut und das andere weniger gut in den Himmel führt. Die Reformation macht uns das Geschenk, dass alles, auch das, was uns so unheilig und verloren erscheint etwas vor Gott und unter seinem liebenden Blick ist. Das ist es, was uns Luther gezeigt hat, dass die Dinge, die wir uns aufbauen am Ende keine Sicherheit vor Gott schenken. Es gibt aber eine Gewissheit des Heils, dass alles, was wir so fabrizieren einen begnadeten Platz in Gottes Herzen hat. Mehr kann man doch über ein Leben gar nicht sagen.
Da stimme ich Dir zu: Luthers Lehre vom unfreien Willen bringt eine realistische Sicht auf den Menschen – nicht als autonomes Wesen, sondern als abhängiges Geschöpf. Und diese Sicht bewahrt vor Selbstüberschätzung und führt zur Demut und zum Vertrauen auf Gottes Wirken. Und damit sind wir doch wieder mitten im Leben: wie viel Sorge mache ich mir über dieses und jenes? Gestern war ich im Landeskirchenamt, da haben wir darüber gesprochen, wie diese Domsanierung gelingen kann… in welchen Zeiträumen und mit welchen finanziellen Mitteln… sicher: das heißt viel Arbeit, wir brauchen viele Spenden… aber es war auch klar… da sind so viele Unbekannte, niemand kann alle Eventualitäten für so ein Bauvorhaben, das viele, viele Jahre dauern wird, wirklich überblicken. Und ich glaube da geht wirklich nur eins: Gott vertrauen! Zu Gott beten, dass er seine Kirche baut!
Ich möchte gerne unseren Gedankengang nochmal zusammenfassen:
- Wir fühlen uns frei oder unfrei in unseren Entscheidungen. Unser Leben ist von dieser Spannung durchzogen.
- Für die Generation der Reformationszeit war aber vor allem wichtig: sind wir frei oder unfrei, an Gottes Reich teilzuhaben.
- Martin Luther plädiert entschieden dafür: Ich habe keinen freien Willen, mich Gott anzubiedern, mich Gott gefällig zu machen.
- Im Glauben schenkt mir Gott diese Gnade. Heilsgewissheit habe ich aber keine.
- Und mit diesem Wissen kann ich nicht überheblich sein, selbstherrlich, besserwisserisch… kurz, sie lehrt mich Demut und ich kann mein Leben als Geschenk und Gnade begreifen. Ob ich diese erlange, das liegt aber voll Gottes Händen.
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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