24.08.2025
über Markus 12,28-34 (Lut17); gehalten im Freiberger Dom St. Marien von Dr. Gunnar Wiegand, Pfarrer des Freiberger Doms
Predigttext wurde als Evangelium gelesen
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Stille…
1. Gottesliebe zwischen Klarheit und Zweifel
Liebe Gemeinde,
das sind doch heute einmal zwei klare Ansagen von Jesus. Gottesliebe als höchstes Gebot und Menschenliebe, die sich unmittelbar darauf bezieht. Und dann auch noch diese sympathische Begegnung des Schriftgelehrten mit Jesus. Beide sind sich über die Bedeutung des höchsten Gebots einig. Der eine lobt den anderen: „Ja, Meister, du hast recht geredet!“ Der andere besiegelt die Szene mit den Worten: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Was für eine Harmonie zwischen den Gelehrten, eine Einigkeit, wie sie die Evangelien ansonsten kaum aufweisen. Zwei klare Ansagen von Jesus, ja zwei klare Bestätigungen durch den Schriftgelehrten: Die höchsten Gebote der Gottesliebe und Menschenliebe.
Und die Nächstenliebe ist so bedeutsam, dass sie bis heute unser moralisches Empfinden prägt – manchmal bewusst, oft unbewusst. Sie leitet viele Menschen, bestimmt das Ethos vieler Menschen über die Grenzen der Religionen hinweg.
Klare Worte Jesu, Worte, die vertraut wirken, Gebote, denen wir zustimmen würden, Harmonie zwischen den Gegnern. Das fühlt sich gut an, da fühle ich mich aufgehoben, bestätigt. Dennoch regen sich da auch Fragen:
Kann ich dem Gebot in dieser Weise überhaupt gerecht werden? Sind denn unser Denken und Handeln wirklich mehrheitlich von der Gottesliebe durchdrungen? Oder ist es vielmehr nicht so, dass Gott im Leben eine eher untergeordnete Rolle zukommt? Steht nicht der Zweifel an Gottes Wirklichkeit, an Gottes Kirche oftmals höher als die Liebe zu ihm? Was ist mit den vielen Menschen, die längst kein Gehör für dieses Gebot haben? Was ist mit den Menschen, die heute nicht hier in der Kirche sind? Was ist mit den Menschen, die glauben, diese Liebe zu Gott nicht zu brauchen? Was ist mit den vielen Menschen, die glauben, Kirche und Gott nicht in ihrem Leben zu brauchen, geschweige denn Gott zu lieben?
So klar und eindeutig die Worte des Schma Israel aus dem Munde Jesu im ersten Moment sind, so viele Fragen werfen sie im zweiten Moment auf. Und ich denke, dass es falsch wäre, diese Fragen einfach wegzureden, zu übergehen. Ich denke, beides gehört zu Gottes Gebot: die Hoffnung auf die Erfüllung seines Anspruchs, wie auch das Gefühl des Selbstzweifels, das bittere Gefühl der Unzulänglichkeit gegenüber Gott. Ich denke, dass Zweifel zum Gebot der Gottesliebe gehört und immer gehören wird. Wie fasziniert mich z.B. die Geschichte des Apostels Thomas, der an Jesu Erscheinung zweifelt (wir hatten sie gestern in einem Konfiworkshop genauer unter die Lupe genommen) … er will Jesus sinnlich fassen… was genau passiert, lässt Johannes dann aber offen. Wir erfahren nicht, ob er den auferstandenen Jesus berührt oder nicht berührt. Oder denken Sie an die Zweifel von Verliebten. Da sitzt ein frischverliebtes Mädchen und reißt den Gänseblümchen die Blütenblätter ab: er liebt mich… er liebt mich nicht… er liebt mich… am Ende steht da das Blütenblatt: er liebt mich… auch Gott liebt Dich!
2. Gottesliebe und Menschenliebe
Für mich wird das am deutlichsten bei Jesu Antwort auf den Ausspruch des Schriftgelehrten. Markus schreibt: „Da Jesus sah, dass der Schriftgelehrte verständig antwortete, sprach er zu ihm: ‚Du bist nicht fern vom Reich Gottes.‘“ Jesus wurde im Vorfeld bereits von Pharisäern und Sadduzäern kritisch hinterfragt und bedrängt. Und nun kam auch noch ein Schriftgelehrter, um ihn herauszufordern. Ihm sprach Jesus am Ende zu: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.‘ – ausgerechnet Du, der Du provoziert hast, herausgefordert hast…“
Das zeigt: das Liebesgebot lässt alle möglichen Grenzen, alle möglichen dogmatischen, konfessionellen, ja sogar religiösen Schranken überwinden. Religiöse Gegner werden Brüder. Feinde könnten sich achten und sogar lieben. Geschickt wird hier die Gottessliebe über den Menschen Jesus, zur Nächstenliebe überführt. Die Gottesliebe, die Verständigung zwischen Schriftgelehrtem und Jesus zeigt das Gelingen der Liebe. Sie reden nicht nur abstrakt miteinander oder verurteilen sich gegenseitig. Sie achten und respektieren sich gegenseitig. Sie üben die Liebe gleich ganz handfest.
Ich finde: ein starker Impuls für das Miteinander in der Gemeinde… ein starker Impuls für das Miteinander in unserer Stadt Freiberg… und damit auch eine schwere Aufgabe, die immer wieder neu anzugehen ist: Liebe üben… in jeder Begegnung…. Und darin auch eine Begegnung mit Gott zu haben…
3. Schma Israel
Heute ist Israelsonntag. Heute erinnern wir an die besondere Beziehung des einen Gottesvolkes, dem Volk Israel und uns Christen. Und zugegebener Maßen: mir fällt es in diesem Jahr nicht leicht darüber zu sprechen. Immer noch sitzen israelische Geiseln in Gefangenschaft der Hamas, immer noch rächt sich die israelische Regierung durch die Besetzung des Gaza-Streifens. Ich nehme wahr: das Handeln der beiden Konfliktparteien ist sehr weit weg vom Liebesgebot des Mose. Ich empfinde hier großes Unrecht. Und egal, wie ich mich äußere: eine Äußerung zu diesem Konflikt kann schnell in einem Shit-Storm enden. Differenzierung bei so verhärteten Fronten sind kaum möglich.
Gleichzeitig sehe ich aber auch die historische Verantwortung, die wir Deutschen gegenüber dem Judentum und auch Israel haben. Es macht mich sprachlos, ja wütend, wenn ausgehend vom Konflikt zwischen Israel und Palästina in unserem Land öffentlich gegen Juden hetze betrieben wird – heute ja meistens in der Anonymität des Internets. Es ist ein Skandal, dass jüdische Einrichtungen 80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs und dem Ende der Shoa mit rund 6 Millionen getöteten Juden, Synagogen immer noch wie Hochsicherheitseinrichtungen mit Kameras und Polizeischutz bewacht werden müssen.
Und dann klingen in mir wieder die Worte aus der Begegnung des jüdischen Schriftgelehrten mit Jesus im Ohr: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Ja, Jesus und der Schriftgelehrte sind beide gleichermaßen Teil von Gottes Reich. Jesus ein Teil des jüdischen Gottesvolkes. Der Schriftgelehrte mit seinem Anteil am Verständnis der Verkündigung Jesu.
Und wenn ich das innerlich höre, empfinde ich antijudaistische Parolen oder Angriffe als Attacken gegen meinen eigenen Glauben… unseren gemeinsamen Gott, der den Menschen die Liebe lehrt.
4. Und jetzt…
Zwei klare Ansagen von Jesus. Gottesliebe als höchstes Gebot und Menschenliebe, die sich unmittelbar darauf bezieht. Und dann auch noch diese sympathische Begegnung des Schriftgelehrten mit Jesus. Beide sind sich über die Bedeutung des höchsten Gebots einig. Der eine lobt den anderen: „Ja, Meister, du hast recht geredet!“ Der andere besiegelt die Szene mit den Worten: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Was für eine Harmonie zwischen den Gelehrten, eine Einigkeit, wie sie die Evangelien ansonsten kaum aufweisen. Zwei klare Ansagen von Jesus, ja zwei klare Bestätigungen durch den Schriftgelehrten: Die höchsten Gebote der Gottesliebe und Menschenliebe. So einfach könnte es sein. Die Realität: voll mit Grenzen, Denkverboten, gepaart mit Hass und Unmündigkeit…
Ich habe kein einfaches Rezept diese Grenzen zu überwinden. Vielleicht ist es wie beim Zweifel an der Liebe… immer wieder dranbleiben… Gott will diese Liebe. Gott liebt Dich.
Ich wünsche Ihnen somit diese drei Dinge… vielleicht helfen sie, so wunderbare Begegnungen zu schaffen, wie zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten:
- Die Liebe Gottes, die Sie mit ihm in guten und schweren Zeiten verbunden lässt. Das Grundvertrauen in Gott, bei allen Zweifeln und scheinbarer Gottferne.
- Den Blick für den Nächsten, Unvoreingenommenheit. Reißen Sie ihre inneren Barrieren, Schranken und Vorurteile ab und begegnen Sie dem Nächsten mit größtmöglicher Liebe. Haben Sie keine Angst. Und bei aller Vorsicht: vertrauen Sie dem Nächsten. Zurückziehen können Sie sich immer noch.
- Denken Sie an die Verbundenheit des Gottesvolkes Israel und der Kirche. Tragen Sie auch die historische Verantwortung weiter in die Welt. Wir sind miteinander über Gott verbunden.
Jesus sprach: „Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5). Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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